Gefunden im 2015’er Notizbuch… Eintragung im August.
Dornröschen
Lass mich dir ein Märchen erzählen.
Ein kleines, trauriges Märchen, dass so alltäglich ist, dass du es nie ein Märchen nennen würdest.
Und doch ist es eines.
Es ist das Märchen einer Hexe.
Und es ist das Märchen eines einzigen, aber nicht artigen… Prinzen. Er lebte hoch in den Bergen, ein wahrhafter Königsgaukler, mehr Jäger als Landesherr… und doch.
In seinen Augen lagen Königreiche ohne Zahl; er gehörte zu Bäumen und Wind, Bergen und wilden Bächen. In einem wilden, verwunschenen Wald lag seine Burg; Stein um Stein hatte er sie erbaut, lebende Bäume bildeten die Wehre. Die Kemenate ein umhegter Platz voll Feuer und Wärme, in der man sanft schweben kann, wenn Regen auf die Dächer trommelt.
Der Pfeil und das Wissen um dessen Flug waren seine Berufung.
Siehst du ihn dort stehen? Auf der Almwiese, hoch in den Bergen der Welt? In seinen Augen lodern die Feuer, die er entzündete, Nacht um Nacht; die Pfeile, die er fliegen ließ, dem Wind anvertraute und ihrer Bestimmung zuwies; das ruhige Wissen um die Berge, die ihn umarmten wie ein Vater seine Söhne.
Wie ein Gletscherbach sprang er von Tag zu Tag; jeden neuen Sonnenaufgang sah man ihn auf dem Dach seines Palastes sitzen, einen irdenen Becher in der Hand, jung und schön, ein Sonnenkind.
Man schrieb Lieder über ihn, und auch er sang das Lebenslied, erdachte, was erdacht werden muss, um die Welt bunter zu machen.
Schmetterling auf seiner Hand, blau und weiß und rot, auf einer Hand, die ich ergreifen möchte;
so sehe ich ihn sitzen, und er ist so schön, dass es schmerzt ihn anzusehen.
Ich sehe sein Leuchten, sehe diese Seele voller Wunder.
Ich sehe aus dem Fenster meines Turmes, in den mich Mutter Tugend einst sperrte, und wieder rinnt eine Träne meine Wange hinab. Bin ich doch nur Dornröschen in meinem dornbewehrten Schloss – eine Zaunreiterin, eine Heckenweise.
Lange habe ich geschlafen, lange habe ich gelernt; bin aufgewacht und fand mich umworben, oh, so schön und so grausam.
Viele durchbrachen gedankenlos den Schutzwall meiner Seele, einige kamen in meinen Dornen um; doch die, für die meine Wehr zu schwach war, weil meine launische Psyche Heilung und Anerkennung, meinen Platz in ihrer Mitte, suchte –
stürmten mein Schloss, zerbrachen die filigranen Zweige meiner schützenden Rose, drangen in meinen Elfenbeintum ein.
Ein roter Kuss besiegelte meinen Untergang – ich wollte geliebt sein, geliebt und verstanden von menschlichen Herzen, und so missachtete ich die Lehren meiner Göttin.
Ich gab mich ganz hin – dem Mann an meiner Seite, seinem Leben, seinen Zielen –
und doch verstand es keiner, die einmal gerissenen Dornen wieder zu hegen, die Rosenknospen zu behüten.
Meine Blüten wurden scheel beäugt – was, wenn ein anderer sie rauben würde? Sie ansehen würde, sich an ihrem Duft berauschen könnte?
Wie sollte in Mann solche Schmach ertragen können?
Blüte um Blüte wurde gepflückt, ich stand nackt und frei im Wind, der mich zauste.
Und doch; bar aller Blüten, klein und schwach, mit zerbrochenen Ranken war ich mehr Dornröschen, als ich es in all der Blütezeit je war; und so ging ich, eines schönen Sommermorgens…
Ging zurück nach Avalon, meine geliebte Apfelinsel, lief in mein Schloss, warf mich schreiend in den hohen Turm, dessen Dach der Himmel ist und dessen Steine aus Glauben bestehen.
Zurück in die Arme der Mutter, die dort schon gütig lächelnd wartete, wartete seit Anbeginn der Zeit.
Und Himmelsvater und Erdmutter woben ihren Zauber über mich, ich begann zu schlafen, zu träumen, zu raunen.
Ich erwachte mit Dornenranken und neuen Blüten – zu kostbar für das Auge, das nur das Außen schaut.
Mutter hält mich jede Nacht in ihren Armen, und ich weine all die Splitter hinaus, die die Schwerter und Eisherzen mir schlugen. Unbedacht zerbrochen, ein Spielball im rauen Leben der Massen, gehöre ich nicht zu ihnen und bin doch von ihrer Rasse; Vater zieht mich in die Wälder, möchte mich frei mit den Wölfen und Luchsen rennen sehen, doch ich bin noch weit entfernt davon, einem Rudel anzugehören.
Dort hinten, siehst du diesen schönen Prinzen? Schön ist er, weil seine Seele leuchtet.
Wenige leuchtende Seelen gibt es, und noch weniger Augen, die sie sehen können.
Er ist allein, genauso wie ich. Er schart ein Menschenrudel um sich, das wenig mehr als das Außen sieht, wohl wissend dass er niemals ganz ankommen wird… so wie ich.
Er schaut mich voller Liebe an, und seine Hände rühren nicht an meinen Dornen. Er erfreut sich am Duft meiner Blüten, doch er berührt sie nicht – er ahnt, dass ich mich selbst befreien muss, dass es niemandem hilft, wenn er mich mit Gewalt holt.
Ich bin noch nicht frei, ihn zu lieben – zu lieben, ohne wieder zu zerbrechen. Und ihn damit auch.
Jage, mein Schütze, es ist eine Freude und Qual dich so frei zu sehen – du schenkst mir Hoffnung.
Die Hoffnung, eines Tages frei an deiner Seite als Königin zu reiten, die Winde zu stärken, die deine Pfeile tragen, die Wunder unseres Vaters mit dir zu teilen, die Dornen als Zaunreiterin zu lenken und zu hüten.
Bis dahin hüte ich meine Tränenperlenschätze, lerne in meinem Turm der Moral die uralten Lügen um Gut und Böse, haue Steine aus Jahren zu – und rühre, rühre meinen Kessel, spinne meine Lebensfäden, lausche dem Wind, der mir von deinen Zielen und Träumen erzählt.
Nichts ist jemals einfach.