Angeregt durch einen neuen, sehr interessanten Kontakt (Seelen finden sich ja bekanntlich) kam ich darauf, wieder über ein Thema nachzudenken, das sich schon durch meine Jugend zog: Odin statt Jesus?
Aufgewachsen im christlichen Glauben, war ich seit meiner Kindheit dazu angehalten, meinen Messias – Heiler – nicht in mir zu finden, sondern mein Heil auf eine externe Macht zu projezieren. Ich lernte, dass ausserhalb dieser Dogmatik nichts existieren könne, was nicht postwendend in die Hölle führen würde – und diese machte mir als Kind große Angst. (Ich mag hohe Aussen-Temperaturen bis heute nicht. 😉 ) Wenn ich nur um jeden Fehler um Verzeihung bitten, Besserung geloben und aufrichtig beten würde, wäre alles wieder gut. Der strafende Gott-Vater hätte dann ein Einsehen, weil sein Sohn ja schon für mich mitbestraft wurde.
So ganz geheuer war mir das nie – warum Gott Jona gegen seinen Willen zur Predigt in Ninive zwang und es rechtens war, als gelobtes Volk ein kaanaitisches zu ermorden, warum Eva fraglos blind gehorchen sollte und der liebe Engel sie mit einem Flammenschwert verjagte – aber was man als Kind lernt, das muss man glauben.
Dass Jesus etwas ganz Anderes predigte, all seine Feinde liebevoll behandelte und Gut und Böse nicht an den Handlungen, sondern den Früchten erkannte – hatte man in meiner Gemeinde vergessen zu erwähnen.
Durch meinen Kampfkunst-Meister W. Hufnagl – einem, wenn man das so sagen darf, wirklichen Meister mit Herz und Seele – gelangte ich zum Taoismus; es kam heraus, dass Schwarz und Weiß nicht Gut und Böse waren, sondern Drache und Phönix, dass sie einander bedingen und eigentlich moral-los sind. Mir wurde diffus bewusst, dass alles nur eine Frage des Horizontes war – und eine klare Dogmatik diesen nur einschränkte. Der Grund ist doch im Ende ein recht simpler – Halt zu geben. Nur was, wenn der Mensch weitergehen möchte, hinter die Stadtmauer, um die ganze wunder-volle Welt erfassen zu lernen?
Er kann sich nicht mehr mit Gut und Böse herumschlagen, muss begreifen, dass alles in einem diffizilen Gleichgewicht ist. Dass Freiheit immer nur die Freiheit des Andersdenkenden ist, dass Richtig und Falsch nur vom Horizont des Definierenden abhängen.
Was für eine Gemeinschaft gut ist, ist für das suchende Individuum ein Gefängnis.
Angeekelt von Dogmen und Heuchelei trat ich in den Kriegszustand: ich setzte meine schwarze Goth-Maske auf und betrachtete interessiert die andere Seite des Christentums – den großen bösen Feind.
Lernte so viel wie möglich darüber, um mir neue Grenzen zu definieren.
Bei näherem Betrachten stellte sich allerdings heraus, dass dieser nicht Böse war – sondern nur selbstbestimmt handelte. Was natürlich dem göttlichen Alleinherrschaftsanspruch abträglich war.
Dieser menschliche, gefallene Lichtengel wurde mir immer sympathischer – er war Magier, er machte keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern und Arten, war eine Naturgewalt und dem Lebenskreislauf unterworfen.
Da kam der Gedanke auf: was, wenn besagter Lichtengel nie gefallen war? Wenn er schon immer da gewesen ist – personifizierter Kreislauf des Lebens und Sterbens – und der gedankenkonstruierte Himmelsgott sich erhoben hatte, in einen Stand, den ihm die Gläubigen angedeihen ließen?
So wurde der große christliche Gott wieder das, was er einst war: der Stammesgott eines kleinen Wüstenvolkes. Mein Gott wurde eins mit mir: er war das Flüstern im Wind, das Lachen der Wolken, das liebevolle Streicheln eines Blattes an der Wange. Er wurde die Macht, die mich antreibt, die meine Kreativität sprühen lässt, immer in mir, ungefragt.
Er leugnete Sinnlichkeit nicht – er war die Sinnlichkeit; er war Mann und Frau, Katze und Kind, Wurzel und Atom. Er war Philosophie, die Sonnenstrahlen, der Blick hoch hinauf in die Sterne. Und so tief in mir, dass wir eins wurden.
Noch heute richte ich meinen Blick gen Himmel, wenn ich mit ihm rede – manche Dinge sind tief verankert – nenne ihn Vater und Allmacht, Geliebter und Freund, Herrn der Wälder und Wotan, wenn ich die Runen werfe.
Warum Odin? Und Wotan? Weil es sich r-ich-tig anfühlt. Weil es in meiner Seele klingt, wenn ich ihn bei einem der tausenden Namen nenne, die er trägt. Alle und doch keinen – genau wie meine Seele.
Odin ist der erste Schamane – er gab seine Unschuld, das Nicht-Wissen-was-kommt, und tauschte es gegen die Magie.
Magie zu wirken heißt: Ich will.
Ich will wissen, was vor sich geht, und es beeinflussen.
Ich bin meines Glückes und Peches Schmied.
Genau wie Odin hängt der Schamane im Wind, baumelnd im Weltenbaum, trägt die Wunden aller Wesen, bis er endlich genug Demut gelernt hat, anzuerkennen, dass alles ein Kreislauf ist.
Dass er nie befehlen, sondern nur auf den Weg bringen darf.
Erkenntnis ist der Schlüssel zur Heilung – und das muss er lernen, grausam und schmerzhaft, aber er lernt es. Weil seine Seele Schamane sein will, ihrem Auftrag erkannt hat: wie Mantao der Königsgaukler muss sie ihren Schild über alle Wesen halten.
Meine Seele ist namenlos, ein Teil der Allseele, und niemandem und nichts unterworfen, dem ich mich nicht unterwerfen will. Genau wie Gott.
Ich werfe mich in seine Arme, wenn ich Trost von meinem Vater brauche, der sagt: Komm, Tochter, wir streiten gemeinsam. Ich bin Schild, Schwert und Rückendeckung. Ich bin dein Urvertrauen. Ich bin das Adrenalin, die Stärke, aber auch die Verantwortung, die du trägst.
Die Mutter ist dein Gefühl – ich bin dein Gedanke. Du kannst nie alleine sein.
Was mir die Große Mutter dort ist, wo ich Frau sein darf: mich im Blutreigen wiegen, meine Menses feiern, die Erde be-hand-eln, mich sinnlich hingeben, lieben und zürnen, tanzen, heilen, genießen, Mutter sein, mich in ihrem dunklen warmen Schoß verkriechen und einfach nur weinen – ist er mein strahlendes Leuchten. Die Mutter ist der Weg, der Vater die Fackel – und ich darf meine eigenen Schritte in die große Freiheit tanzen.
Große Göttin, Großer Gott – ihr seid die eine Allseele. Und ich kann euch als Mensch nur personifiziert begreifen.
Deshalb habe ich meinen Frieden mit dem christlichen Gott gefunden: er ist eine Personifizierung wie die meine, gut gedacht, doch schlecht ausgeführt. Aufgedrückt auf Menschenseelen, die von seinen Gläubigen unselbständig gemacht werden.
Cui Bono? Wem nützt es?
Dem, der Macht ausserhalb seiner Seele sucht.
Meine Dogmatik durfte zu Urvertrauen werden – und nun bin ich endlich angekommen, frei und sprichwörtlich im Fluss, geborgen in der Mutter Armen, die das Flussbett sind, geführt von des Vaters Leuchten, das die Richtung vorgibt.
Der Fluss jedoch ist nicht mehr die Gemeinschaft, in der ich nur ein Tropfen bin – ich bin es, ich selbst, und die Strömung und Tiefe bestimme ich.
Irgendwann fließen alle Flüsse ins Meer.
Ohne mich keine Götter, ohne die Götter kein ich – weil jeder Mensch Gott und Göttin ist.
Und so stellt sich die Frage nach Odin oder Jesus eigentlich gar nicht mehr: beide sind Heiler, jeder auf ihre Art. Beide Vorbilder, beide opferten sich bewusst für ein größeres Ganzes.
Der Eine aus Wissensdurst, um Unheil abzuwenden, der Andere aus Liebe, um Brücken zu schaffen.
Eben weil es Wesen gibt, die sich entweder dem Erkennen oder der Gnade näher fühlen möchten, braucht es viele verschiedene Heilsbringer.
Vergesst nur nicht, dass sie nur Wegbereiter sein können und nie der Weg selbst – der seid ihr allein. Jeder für sich. Jeder nach seiner Façon und seinem Horizont.